Leseprobe zu Erbin der Zeit: Die Tochter des Himmels

Kapitel 1

Ramy

Wir hatten aus Versehen den Krieg losgetreten. Statt Tantalos aus dem Tartaros zu befreien, wie wir es dem Monster, das für Tsagios arbeitete, versprochen hatten, hatten wir es vergessen und waren einfach zurück nach Titansvillage gegangen. Und jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Tsagios‘ Truppen hier auftauchen würden.
Aus verschiedenen Gründen fand ich Tsagios viel schlimmer als den Olymp.
Erstens wussten wir kaum etwas über diese Stadt. Sie war einfach so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht.
Zweitens hatten sie eine enorm große Armee.
Und drittens mussten sie nicht nach den Königsblütern suchen, weil sie niemanden erwecken wollten. Die Meeresgötter wollten lediglich alle umbringen. Sie brauchten nur das Skia, das in einer Truhe im Hauptgebäude aufbewahrt wurde. Noch ein Grund mehr, schnellstmöglich hier einzumarschieren.
Ich saß zusammen mit ein paar anderen an einem Tisch in der Mensa und gähnte. Mein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft und ich zitterte vor Kälte. Nae hatte uns morgens um vier aus unseren Hütten gezerrt. Warum auch immer hatte sie alle ihre großen Erkenntnisse mitten in der Nacht.
Müde blickte ich in die Runde.
Heige hatte die Beine auf den Tisch gelegt und rauchte, was Jannes neben ihr ziemlich zu stören schien. Aber jedes Mal, wenn Jannes die Nase rümpfte, blies Heige ihr nur absichtlich den Rauch ins Gesicht und lachte. Das Mädchen kostete wirklich aus, dass sie keine gesundheitlichen Probleme kriegen konnte.
Roove versuchte, Jannes zu beruhigen, was ihm kein bisschen gelang. Raphael starrte zu Boden und schlang eine dicke Wolldecke um sich. Ich hätte auch gern eine gehabt, es aber natürlich nie zugegeben. Auch wenn es eine eiskalte Oktobernacht war.
In den letzten zwei Wochen war Raph irgendwie Teil unserer Gruppe geworden. Durch seinen Streit mit Kaden und der Funkstille, die jetzt zwischen den beiden herrschte, wusste er nicht so genau, wo er hingehörte und Nae versuchte nun, ihn bei uns aufzunehmen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht mochte, auch wenn ich nicht nachvollziehen konnte, wie man jemanden wie mich nicht fantastisch finden kann.
Nae brachte uns gerade eine Kanne Kaffee, damit wir nicht einschliefen, und schenkte sich eine extra große Tasse ein.
„Also, jetzt sind wir ja vollzählig.“
Für den Bruchteil einer Sekunde wunderte ich mich, doch dann fiel mir auf, dass sie Recht hatte. Xaenym, Lex und Jakir waren noch immer irgendwo in Georgia, um Kayth Haring zu suchen. Theoretisch hätte Heige sie im Handumdrehen per Portal hinbringen können, aber sie weigerte sich, ihre Kräfte zu benutzen. Sie sagte, die Hexenmagie hätte sie einfach zu viel gekostet.
Ich nahm es ihr nicht übel. Wir alle wussten, dass man sich nicht auf Heige verlassen konnte und hatten gelernt, nicht auf sie zu zählen. Aber trotzdem würde sie uns nicht verraten. Sie war zwar eigensinnig und egoistisch, doch es gab nichts, was der Vasilias ihr anbieten konnte. Und außerdem hasste sie ihn zu sehr.
Ich hätte gern gesagt, dass ich ihn auch hasste. Aber im Gegensatz zu den anderen hatte ich etwa einmal mit Paver Cane gesprochen. Ich fühlte mich nicht von ihm verraten. Der Vasilias war für mich immer noch ein Phantom, ein Mann ohne Gesicht.
„Rück endlich mit der Sprache raus, Nae“, stöhnte Jannes genervt und verdrehte die Augen.
„Ähm … Ich weiß, wer der Königsblüter von Athen ist.“
Sofort war ich hellwach. Alle sahen Nae fragend an, bis auf Heige, die zu beschäftigt damit war, sich eine Haarsträhne zu flechten.
„Denkt doch mal nach. Die Prophezeiung sagt, wir kennen den dritten Goldblüter schon. Also wer könnte es sein? Wir kennen niemanden aus dem Olymp oder Tsagios und es ist auch keiner aus Titansvillage. Und wir wissen nur von einen Goldblüter, der in der Welt der Sterblichen lebt.“
„Arabelle“, platze Roove hervor.
„Genau.“
Raphael hob eine Hand, als würde er sich im Unterricht melden. „Äh, wer ist Arabelle?“
„Ihre Mom, eine verdammt reiche Goldblüterin aus London, hat uns vor zwei Jahren kontaktiert, damit wir ihre Tochter ausbilden. Roove, Ayslynn und ich sind also nach London gefahren und haben das Anwesen leer vorgefunden. Niemand weiß, wo das Mädchen heute ist“, erklärte Nae.
„Warte mal, du hast gesagt, die Familie war stinkreich und kommt aus London. Habt ihr den vollen Namen für mich?“, fragte Raphael.
„Arabelle Chloe Kingsley, wieso?“ Roove runzelte die Stirn.
„Wenn ihr ‚verdammt reich‘ sagt, von wie viel Geld sprechen wir dann?“
„Ganz London hat den Kingsleys gehört. Sie waren Milliardäre, wenn nicht Billionäre.“
„Bringt mir einen Laptop“, forderte Raphael.
„Willst du Arabelle Kingsley googeln?“, fragte Heige. „Das hilft dir bestimmt weiter.“
Raphael seufzte. „Ich trage Star Wars T-Shirts und bin ein ziemlicher Nerd. Ich google nicht. Ich hacke mich ins britische Bankensystem, rufe die Top zehn Konten unter dem Namen Kingsley auf und schaue, wo sie zuletzt aktiv waren.“
„Ich hab keine Lust auf die Rotblüterpolizei“, meinte Nae.
„Wieso? Letztes Mal war’s verdammt lustig mit denen“, warf Heige ein.
„Ich kann durchaus meine Spuren verwischen. Und jetzt bringt mir einen Laptop“, wiederholte Raphael.
Roove zuckte mit den Achseln, stand auf und holte einen alten, nervtötend langsamen Rechner aus seiner Hütte.
„Du musst die IP-Adresse …“, setzte ich an, doch Raphael hob die Hand und brachte mich zum Verstummen.
„Ich hab die IP-Adresse für das ganze Lager schon vor Jahren umgeleitet. Wir können ins Internet, ohne dass jemand erfährt, wo wir sind.“
„Na dann“, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
Schon nach zwei Minuten ging mir das ständige Klicken der Tastatur auf die Nerven.
„Während Sanchez arbeitet, können wir ja auch weiter über den Krieg diskutieren“, schlug Jannes vor.
Heige seufzte. „Nicht schon wieder.“
Jannes funkelte sie wütend an.
„Hör zu, Prinzesschen von Troja: Wir stecken ziemlich tief in der Scheiße. Unser Lagerleiter ist ein unrasierter Typ im Unterhemd, die Göttin, die uns eigentlich helfen sollte, läuft in ihrer sterblichen Gestalt herum und hat nur Augen für ihn, die Titanen lassen sich nie blicken. Tsagios könnte jeden Moment mit einem Heer vor unserer Tür stehen und wir brauchen das Blut vom Vasilias, wenn wir eine Chance haben wollen. Wir müssen was tun. Kriegsvorbereitungen treffen. Ein Heer aufbauen. Pläne schmieden. Jetzt.“
„Jannes hat Recht. Und außerdem müssen wir die anderen Goldblüter hier trainieren. Aras hat damit aufgehört“, meinte Nae.
Roove seufzte. „Das sind definitiv zu viele Probleme auf einmal. Wie wäre es, wenn wir erst einmal Arabelle finden und warten, bis Kayth hier ist? Xae kann dann das Training leiten. Wir haben noch ein, vielleicht zwei Wochen Zeit. Es dauert eine Weile, bis Tsagios seine Truppen mobilisieren kann. Wenn wir drei Königsblüter haben, machen wir uns Gedanken um den letzten. Und währenddessen treiben wir dann irgendwie Truppen auf, ja?“
„Das klingt nach einem Plan“, sagte ich.
„Nach einem schlechten“, fügte Jannes zuckersüß hinzu.
„90 Prozent unserer Pläne sind schlecht, aber irgendwie funktionieren sie immer“, erwiderte ich.
Jannes seufzte.

Xaenym
Wir standen einfach nur da und starrten das Ortsschild von Sandy Springs an. Um ehrlich zu sein, hatte keiner von uns eine Ahnung, wie genau wir Kayth finden sollten. Die Stadt hatte über hunderttausend Einwohner. Wir konnten schlecht an jedem Haus klingeln.
Nachdem wir ein wenig überlegt hatten, beschlossen wir, uns an der North Springs High School einzuschleichen und uns umzuhören. Jakir war zwar zu alt dazu, aber Lex und ich waren noch im Schüleralter.
„Und Alice, wollen wir shoppen gehen?“ Lex zwinkerte mir zu.
„Äh, wieso?“
„Also ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber ich gehe nicht in Kampfmontur da hin“, erwiderte er.
„Oh, richtig.“ Ich kam mir ziemlich dumm vor.
Sofort nahm er meine Hand und zog mich die Straße hinab. Jakir sah uns verwirrt nach, als wüsste er nicht genau, was er tun sollte.
„Warte! Was ist mit Jakir?“
„Der hält die Stellung.“
Ich runzelte die Stirn. „Am Ortsschild?“
Lex nickte ernst.

Ich hatte keinen eigenen Stil. Ich mochte weder Kleider, noch einfache T-Shirts oder ausgefallene Muster. Früher hatte ich Mode geliebt, aber jetzt sah das alles für mich mehr oder weniger gleich aus.
Auf einmal dachte ich an Kayth und seine bunten Ringelsocken. Eigentlich trug er völlig durchschnittliche Sachen, krempelte aber seine Jeans hoch, damit man seine Socken sah. Er hatte auf jeden Fall Stil. Bei dem Gedanken daran, ihn morgen vielleicht schon wiederzusehen, stieg mein Herzschlag an. Ich konnte mir kaum erklären, warum ich so für ihn empfand, wo wir uns doch erst einmal gesehen hatten. Immer, wenn ich an ihn dachte, schoss mir das Blut in die Wangen und ich wünschte mich zurück auf diese Parkbank in Ägypten, neben den Jungen mit den verschiedenfarbigen Augen. Ich wollte bei ihm sein und ihn kennenlernen. Wollte wissen, ob er auf der rechten oder linken Seite des Bettes schlief. Ob er seine Pommes mit Mayonnaise oder Ketchup aß.
Ich war nicht wegen des Krieges hierhergekommen. Ich wollte einfach nur bei Kayth sein. Und das, obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Es war verrückt. Ich wusste nicht, wo ich diese Gefühlte einordnen sollte. Irgendwie kam es mir so vor, als hätten sie keinen Platz in meinem Körper. Aber sie waren da, schwirrten umher und brachten mich durcheinander.
Ich ließ mich auf den Hocker in der Umkleidekabine sinken und stützte den Kopf auf die Hände.
Am liebsten hätte ich Sivah gefragt, ob das normal war und wie ich damit umgehen sollte, aber das ging nicht. Sivah war tot.
„Und? Wie seh ich aus?“, fragte Lex von draußen. Ich seufzte und ging hinaus, wo ich sofort losprustete. Lex trug einen silbernen Hut, ein grünes Jackett voller Glitzerpailletten und eine riesige, goldene Sonnenbrille.
„Fantastisch“, lachte ich.
„Weißt du, ich fühl mich wie so ein Hippie aus den Siebzigern.“
„Das Stirnband und die langen Haare fehlen“, gab ich zu bedenken.
„Ich brauche so was von eine Haarverlängerung.“
Wieder lachte ich.
„Komm schon, du musst auch so etwas anprobieren.“
„Nee, lass mal. Ich bleibe lieber bei den normalen Sachen.“
„Dann entscheid dich endlich mal. Du hattest gefühlt den halben Laden an und hast noch immer nichts gefunden.“
Ich seufzte und setzte mich auf den Boden. „Mir gefällt hier einfach nichts.“
„Soll ich dir etwas raussuchen, das eigentlich jedem Mädchen steht?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst.“
Er hob einen Arm.
„Was genau … ?“
Lex deutete auf seine leere Hand. „Das ist das Outfit, was so gut wie jedem Mädchen steht.“
Ich seufzte, musste aber ein Grinsen unterdrücken.
„Okay, jetzt mal ernsthaft. Das Problem sind gar nicht die Klamotten, oder? Alice McElderry, du hast wohl Angst.“
Er grinste und setzte sich neben mich.
Angst. Ich hatte nicht besonders oft Angst, doch leider hatte Lex Recht. Der Gedanke, Kayth gegenüber zu stehen, machte mich ungeheuer nervös.
„Warst du schon mal verliebt?“, fragte ich leise.
Lex schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht so der Typ dafür.“
„Du hast doch ungefähr jede Woche eine neue Freundin.“
Er legte den Kopf schief und zog die Nase kraus. „Na ja, das sind eher One-Week-Stands.“
Ich schmunzelte.
„Also, wovor hast du Angst?“
„Was, wenn ihm mein Outfit nicht gefällt?“
„Du könntest das Outfit tragen, das ich vorgeschlagen habe. Das würde ihm garantiert gefallen.“
Ich verdrehte die Augen. „Ernsthaft: Was, wenn er mich sieht und sich fragt, was an mir überhaupt so toll sein soll?“
„Er wird dich lieben. Er muss.“
„Das ist ja das Problem. Er könnte sich darüber Gedanken machen, dass das Ganze nur wegen unserer Abstammung ist. Dass er mich sonst nicht lieben würde.“
„So läuft das nicht. Ihr liebt euch einfach. Okay, es liegt an eurer Abstammung, aber wen kümmert’s?“
„Ich weiß einfach nicht, was ich zu ihm sagen soll, wenn ich ihn auf dem Schulflur sehe. Dadurch, dass wir schon verliebt sind, fühlt sich das Ganze so vorbestimmt und unwirklich an.“
„Sag ihm einfach hallo. Danach kommt ihr schon ins Gespräch. Ihr müsst schließlich eine Menge klären.“
„Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich meine …“
„Hör mal: Du hast mir von eurem ersten Gespräch erzählt. Und ihr habt beide geredet wie ein Wasserfall. Bei euch kommt kein peinliches Schweigen auf. Dafür passt ihr zu gut zusammen.“
„Woher willst du das wissen? Wir kennen ihn doch beide nicht wirklich.“
„Wir sind hier, um ihn kennenzulernen.“

In elf Minuten würde der Unterricht beginnen. Ich stand vor den Türen der North Springs High School und starrte sie an. Lex sagte nichts. Er würde warten, bis ich bereit war. Mit zitternden Händen zog ich mein lilanes T-Shirt glatt. Heute hatte ich mir zum ersten Mal seit Monaten wieder Mühe gegeben, gut auszusehen. Ich hatte sogar ein wenig Schminke aufgetragen.
Jakir saß auf einer Parkbank vor der Schule und warf mir einen beruhigenden Blick zu. Du schaffst das, schienen seine goldenen Augen zu sagen.
Lex hielt mir seinen Arm hin, woraufhin ich mich bei ihm unterhakte und mich regelrecht auf ihn stützte. Meinen eigenen Beinen traute ich im Moment nicht ganz.
„Lass mich nicht fallen, ja?“
Er nickte und öffnete die Tür.
North Springs war eine High School wie jede andere. Die Flure waren hell, zahlreiche Schüler standen an ihrem Spind und nahmen Bücher heraus. Lex und ich gingen zunächst zielgerichtet hinein, als wüssten wir, wohin wir gehen sollten, lehnten uns dann an eine Wand und sahen uns um.
„Siehst du ihn irgendwo?“, fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich auch nicht.“
Lex wirbelte herum, hielt geradezu auf ein Mädchen zu und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln.
„Hi, ich bin Jackson aus der Zwölften. Weißt du, wo ich Kayth Haring finde?“
Ihre Mundwinkel hoben sich und sie wurde rot. „Ich bin Angelica.“
Lex wartete einige Sekunden und fragte dann erneut nach Kayth.
„Oh, äh … Keine Ahnung“, stammelte sie und spielte mit ihren Haaren.
Ich verdrehte die Augen. Sie war noch nicht mal schüchtern. Nein, sie versuchte, süß zu wirken. Ich kannte diese Sorte Mädchen. Ziemlich beliebt, meistens im Cheerleaderteam. Ich hatte schließlich selbst einmal zu diesen Mädchen gehört.
Angelica schrieb irgendetwas auf einen Zettel und gab ihn Lex, der sich bedankte und wieder zu mir herüberkam.
„Und? Erfolg?“, seufzte ich.
„Kommt drauf an, wie du Erfolg definierst. Sie kennt Kayth nicht, aber ich habe ihre Nummer.“ Grinsend hielt er ein Stück Papier, auf das mit schön geschwungenen, pinken Buchstaben ‚Angelica‘ und ihre Nummer geschrieben standen.
„Du hast kein Handy“, erwiderte ich kühl.
„Verdammt, Alice. Guck dir das Mädchen an. Für die kauf ich mir ein Handy, wenn’s sein muss.“
Ich ging nicht darauf ein und sah mich nach weiteren Teenagern um, die wir nach Kayth fragen konnten.
Ein schriller Glockenton erklang. Ich zuckte zusammen. Mist. Der Unterricht begann.
Lex und ich wollten gerade gehen, als uns jemand an der Schulter berührte.
„Schwänzen ist heute nicht, ihr zwei.“
Innerlich fluchend fuhr ich herum.
Es war einer dieser überordentlichen Lehrer Mitte 40, der sich haargenau an alle Regeln hielt und Kaschmirpullis mit Rollkragen trug.
Beinahe wäre ich aus Reflex weggerannt, doch irgendetwas an dem Funkeln in Lex‘ karamellfarbenen Augen sagte mir, dass er die Situation unter Kontrolle hatte.
Vermutlich hatte er durch seine Gabe wieder irgendeine Info erhalten, die ihm weiterhalf.
„Mr. Rolston, wir wollten nicht schwänzen, Alice hat nur ihre Schlüssel vor der Tür verloren. Danach gehen wir sofort zum Unterricht, versprochen.“
„Ich habe euch noch nie hier gesehen“, schnaubte Rolston.
„Wir sind nun mal unauffällig. Und jetzt müssen wir los, sonst kommen wir noch zu spät“, sagte Lex mit einem entschuldigenden Lächeln und zog mich fort.
Als wir gerade rausgehen wollten, merkte ich, dass Mr. Rolston uns folgte. Natürlich.
„So, nachdem deine Schlüssel jetzt nicht wieder aufgetaucht sind, könnt ihr ja in den Unterricht“, knurrte er und zerrte uns hinein.
„Welches Fach hast du gerade?“, fragte er mich.
„Äh … Mathe. Elfte Klasse.“
„Und du?“, wandte er sich an Lex. „Biologie. Zwölfte.“
„Dann wollen wir euch mal in den Unterricht bringen.“
Ich seufzte.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals wieder im Matheunterricht landen würde.
Rolston hatte mich einfach nur ins Klassenzimmer geschoben, also hatte ich mich als neue Schülerin vorgestellt und mich in die hinterste Reihe gesetzt.
Die Leute beachteten mich nicht. Ich war zwar nicht unscheinbar, aber ich hielt die ganze Stunde über den Mund.
Obwohl ich mich verhielt wie früher im Unterricht, ging in mir etwas ganz anderes vor. Ich starrte keine Löcher mehr in die Luft, sondern beobachtete die anderen Schüler. Überlegte, wo sie Waffen versteckt haben könnten. Schätzte, wie schnell sie mich angreifen könnten. Ich sah in jedem eine potentielle Gefahr.
Ein Teil von mir wünschte sich mein altes Leben zurück. Damals war ich nicht ständig in Alarmbereitschaft gewesen und hatte nicht so viel über andere Leute nachgedacht.
Aber ein viel größerer Teil von mir liebte mein Leben. Trotz der vielen Verluste bot es mir mehr, als ich als Rotblüterin je hätte bekommen können. Es war, wie Sivah damals in den Tropen gesagt hatte. Ich hatte die Chance auf ein wahres Leben, die Chance, etwas zu verändern.
Die Pausenklingel riss mich aus meinen Gedanken.
Hastig packte ich meine Sachen zusammen und folgte irgendeinem Mädchen. Sobald sie mich bemerkte, fuhr sie herum.
„Hast du auch Kunst belegt?“, fragte sie.
„Äh, klar.“
Sie rümpfte die Nase. Anscheinend mochte sie mich nicht. Das Mädchen gehörte wohl nicht zu den Beliebten. Aber sie schien zu glauben, ich würde bald dazugehören und hasste mich schon mal im Voraus. Ich fragte mich, was sie von mir gehalten hätte, wenn sie die Wahrheit über mich gekannt hätte.
Schließlich kamen wir im Kunstraum an. Das Mädchen setzte sich sofort an ihren Platz in der ersten Reihe, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Also stellte ich mich kurz beim Lehrer vor. Man sah ihm irgendwie an, dass er Künstler war. Er brannte für seinen Beruf, freute sich jedes Mal, wenn er die Zeichnungen an den Wänden anschaute. Umso weniger Interesse zeigte er für mich.
„Alle mal herhören, das ist Alice McDonalds.“
Fast musste ich lachen. Wer hätte gedacht, dass ich jemals wieder in einem Klassenraum landen und dem Lehrer die Aussprache meines Namens erklären würde? Ich verdrehte die Augen. „McElderry, Idiot.“
Die Gespräche verstummten. Die Leute reckten die Hälse, um zu sehen, wer sich getraut hatte, so mit Mr. Gregson zu reden. Erst jetzt sah ich mich wirklich im Raum um, analysierte alles, wie ich es eben getan hatte.
Ein Mädchen in der vordersten Reihe hatte die Hand an ihrem Gürtel eingehakt. Ein Goldblüter würde so etwas tun, um jederzeit eine Waffe ziehen zu können.
Der braunhaarige Junge in der dritten Reihe schaute mich gelangweilt an. Ein Goldblüter guckte so, wenn jemand es noch nicht einmal wert war, getötet zu werden.
Aber das waren normale Leute. Ich hätte sie nicht so misstrauisch beobachten sollen. Die versteckte Welt war etwas völlig anderes als diese hier. Ich musste nicht nach Gefahren Ausschau halten. Zögerlich entspannte ich mich.
Und dann hörte ich jemanden schmerzerfüllt schreien.