Leseprobe zu Erbin der Zeit: Die Schlacht von Pyrinas

Kapitel 1

Xaenym

Wenn ich im letzten Jahr etwas gelernt habe, dann, dass Gefühle einerseits Stärke bedeuten, andererseits aber auch der Schwachpunkt jedes Menschen sind.
Als mich eines Morgens ein schrilles Piepen aus dem Schlaf riss, schlug ich genervt mit meinem Kissen nach dem Wecker, der mit einem Knacken den Geist aufgab. Ich hievte mich aus dem Bett und ging in mein kleines Bad, um mir dort eiskaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Zwei grünbraune Augen blickten mich aus dem Spiegel an, umrahmt von rotbraunen, gewellten Haaren, die mir sanft auf die Schultern fielen. Ich lächelte. Mein Name war Xaenym Davine und mein Leben war perfekt. Mit meinen hübschen Haaren, außergewöhnlichen Augen und weichen Gesichtszügen galt ich in der Schule als das schönste Mädchen. Meine Mutter hatte viel Geld und ich hatte einen Freund, Zack, den Quarterback im Footballteam unserer Schule. 16 Jahre alt wurde ich heute, allerdings hielt sich meine Vorfreude in Grenzen. Genaugenommen gab es nur eine Sache, die ich an Geburtstagen mochte: den Teil der Geschenke, mit dem man etwas anfangen konnte. Bedauerlicher Weise war der nie besonders groß. Jedes Jahr hört man sich etliche Glückwünsche an und nimmt schreckliche Geschenke entgegen, nur um zu feiern, dass man Jahr für Jahr älter wurde.
Schnell zog ich mir ein gelbes T-Shirt sowie einen kurzen, schwarzen Rock an und schlich aus meinem Zimmer, doch ich wurde von einer heftigen Umarmung aufgehalten.
„Happy Birthday!“, rief meine Mutter Annie aufgeregt. Sie war eine außergewöhnliche Schönheit. Schwarze Locken fielen ihr bis zum Kinn und leuchtend blaue Augen ließen ihre Züge geheimnisvoll aussehen. Ein knielanger Rock schmiegte sich um ihre Beine, der gut zu ihrer zierlichen Figur passte.
Ich wurde mit geschlossenen Augen in unsere Küche geführt, wo eine schiefe, leicht verbrannte Torte, umgeben von kleinen Geschenktüten, in denen ich hauptsächlich Schmuck vorfand, auf mich wartete. Dass meine Mutter gebacken hatte, war ein Wunder. Annie trug rund um die Uhr Hosenanzüge oder schicke Blusen und lief dauernd wegen irgendwelcher Unterlagen für ihre Arbeit als Anwältin durch die Wohnung. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals kochen oder backen gesehen zu haben. Mit entschuldigendem Lächeln, sagte ich, dass ich spät dran sei, um der Torte zu entkommen und rannte, weil ich nicht ganz gelogen hatte, hastig zur Bushaltestelle. Gerade so erwischte ich den uralten Schulbus, in dessen Innerem ich mich erschöpft auf einen Sitz fallen ließ. Plötzlich tauchte neben mir meine beste Freundin Catherine auf und erschreckte mich zu Tode.
„Musst du dich immer so anschleichen?“, meckerte ich.
„Schlechte Laune? Kein Problem, das hier wird dich deutlich aufheitern“, verkündete sie strahlend und reichte mir ein zerknittertes Päckchen, das ich in meine Schultasche stopfte.
„Danke. Ich öffne es später“, meinte ich, während ich einige Geschenke und Glückwünsche von ein paar Kids aus den hinteren Sitzreihen entgegennahm, die nun nach vorne schlurften und mir diese überbrachten. Natürlich hatte ich weder eine Ahnung, wer sie waren, noch wieso sie mir etwas schenkten, doch da ich ziemlich beliebt war, lief das jedes Jahr so ab. Fremde Kinder schenkten mir Nagellack, meine Freunde ebenfalls und Zack versuchte es mit Gutscheinen. Ich wusste nicht, ob er mich wirklich liebte. Unsere Beziehung beruhte eher auf der Tatsache, dass die beiden beliebtesten Leute der Schule einfach zusammen sein mussten. Aber ich mochte Zack. Ich mochte meine Freunde. Ich mochte mein Leben. Und gegen Gutscheine konnte man auch nichts einwenden.
Mit quietschenden Reifen hielt der Bus und alle Schüler drängten sich zum Ausgang. In der ersten Stunde hatte ich Mathe mit Catherine, also schlenderten wir gemeinsam zum Raum und setzten uns auf unsere Plätze. Die ganze Stunde starrte ich Löcher in die Luft und Mr. Bree, unser Lehrer, war tatsächlich so freundlich mich einfach in Ruhe zu lassen, statt mir irgendwelche Fragen zu stellen, auf die ich ohnehin keine Antwort gewusst hätte.
Bald wurde ich endlich durch die Pausenklingel erlöst und als ich aus dem Raum ging, griff jemand nach meinem Arm. Instinktiv holte ich aus und schlug nach demjenigen. Doch er duckte sich weg und lachte.
„Was ist denn los, Xae?“ Ich erkannte Zacks Stimme und beruhigte mich ein wenig. Als ich herumfuhr und ihn ansah, grinste er mich breit an.
„Du … du hast mich erschreckt“, erklärte ich knapp. Er schenkte mir ein Päckchen, das ich ebenfalls in meinen Rucksack stopfte, und küsste mich kurz. Verwirrt begab ich mich zum Englischunterricht. Warum war ich heute so schreckhaft? Kopfschüttelnd verließ ich den Raum.
Vielleicht lag es daran, das mir meine Mutter heute endlich von meinem Vater erzählen würde. Ich hatte ihn nie kennengelernt, doch meine Mom sagte mir immer, er hätte wegen eines Jobs wegziehen müssen. Allerdings glaubte ich, dass das einem Code für ‚Er ist im Gefängnis‘ entsprach und erhoffte mir somit nicht viel vom Namen, den Mom mir heute nennen wollte. Trotzdem war ich neugierig und konnte den Schulschluss kaum erwarten, der noch länger auf sich warten ließ als sonst, weil ich heute ausnahmsweise eine Stunde länger Unterricht hatte.
Als es endlich soweit war, stürmte ich aus dem Klassenzimmer und ging zu Fuß, statt mit dem Bus zu fahren, da ich niemandem mehr begegnen wollte. Ich fühlte mich schon seit einigen Stunden irgendwie schutzlos und beobachtet, mein Herz schlug wie wild und ich hatte mich durch so ziemlich alles erschrecken lassen: herunterfallende Stifte, sich öffnende Türen und andere vollkommen unerschreckende Dinge.
Vielleicht habe ich ja Fieber, dachte ich und berührte meine Stirn. Tatsächlich war sie brühend heiß, obwohl ein kühler Frühlingswind wehte und die Sonne nur vereinzelte Strahlen durch die dicke Wolkendecke sandte. Es würde wohl das Beste sein, wenn ich schnell nach Hause lief und mich dort ein wenig ausruhte.
Als ich ankam, rannte ich die Treppe hinauf und betrat die Wohnung, die seltsam leer wirkte. „Mom?“, rief ich, doch niemand antwortete. Alles befand sich noch genau da, wo es heute morgen gewesen war: die Tasse auf der Kommode im Flur, die Vase auf dem Kühlschrank, die ich kurz dort abgestellt und seit Tagen nicht weggeräumt hatte. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich. Mein Puls raste.
Leise schlich ich in mein Zimmer, wo ein kleines Kästchen auf meinem Bett lag. Mit zitternden Händen öffnete ich es und fand darin als erstes ein Foto. Es zeigte meine Mutter und einen etwa 25-jährigen jungen Mann mit hellbraunen Haaren und seltsamen Augen, die mich an flüssiges Gold erinnerten. Mom sah jünger und wesentlich glücklicher aus. Ihre Haare waren länger und sie trug eine schreckliche, grüne Strickmütze. Ich legte das Foto beiseite, nahm einen weißen Umschlag aus dem Kästchen und las den darin enthaltenen Brief:

Xaenym, es tut mir alles so schrecklich Leid. Dein ganzes Leben lang habe ich dir Informationen über deinen Vater vorenthalten. Auch jetzt bringe ich es nicht über mich, dir alles in diesem Brief zu erklären. Du wirst es bald verstehen. Ich weiß nicht, was heute geschehen wird, aber du musst unbedingt bevor du wirklich 16 Jahre alt wirst zu unserer Nachbarin Mrs. Neel und ihr diesen Brief geben. Du musst vor 15:17 Uhr dort eintreffen oder du gerätst in schreckliche Gefahr. Vertrau Sivah und halte sie nicht für verrückt, denn was sie sagt ist wahr.
Nun zu deinem Vater: Wie du sicher erraten hast, ist es der Mann auf dem Foto. Als ich in einem Café gearbeitet habe, lernte ich ihn kennen. Damals war ich gerade mal 20 Jahre alt. Er hat einen Espresso und ein Stück Kirschkuchen bestellt. Dann fragte er mich nach einem Date und es lief viele Wochen alles perfekt zwischen uns.

An dieser Stelle sah ich gewellte Flecken auf dem Papier; hier hatte meine Mutter weinen müssen.

Doch dann wurde ich schwanger und unser kleines Paradies drohte einzustürzen. Er erzählte mir das, was du bald auch erfahren wirst und wieso er weg musste; ich war geschockt. Ich wollte dich beschützen, schließlich warst du alles, was mir noch geblieben war. Ich konnte dich nicht auf ewig verstecken, aber ich wollte es versuchen, obwohl klar war, dass du spätestens mit 16 alles erfahren wirst. Sivah wird dir alles genauer erklären. Geh mit ihr nach Titansvillage und lass dich ausbilden. Sei tapfer, Xaenym. Du hast es im Blut.
Annie

Wieder waren einzelne Stellen des Papiers durch Tränen gewellt. Bestimmt hätte ich auch geweint, wären mir nicht so viele Fragen durch den Kopf geschwirrt.
Außerdem konnte ich mich nicht erinnern, jemals geweint zu haben. Nicht, als mein Großvater gestorben war, nicht, als mein Arm gebrochen war, niemals. Es war glücklicherweise niemandem außer Mom aufgefallen, doch sie hatte es nie angesprochen. Irgendwann begann ich zu glauben, dass ich wohl eine starke Persönlichkeit hatte und mich nichts so schnell aus dem Konzept brachte. Doch dieser Brief tat genau das.
Benommen ließ ich die Hand sinken und starrte in die Leere. Was hatte das alles zu bedeuten? Gedankenversunken schlenderte ich zum Fenster und sah hinaus auf den bewölkten Himmel, auf den Horizont und die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Anblick, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte, doch jetzt fragte ich mich, ob das alles eine Lüge war, ob nichts so war, wie es schien.
Als ich auf meine Armbanduhr schaute, bemerkte ich, dass es bereits 15:11 Uhr war. Gerade wollte ich zu Mrs. Neel gehen, doch dann erstarrte ich. Am Horizont erschienen sieben schwarz gekleidete Gestalten, die zielsicher zwischen den Häusern hindurchgingen und genau auf unseres zusteuerten. Mrs. Neel wohnte auf der anderen Straßenseite, doch der Weg dorthin war jetzt abgeschnitten. Ich sprintete zur Tür, um den Notausgang zu nehmen, doch plötzlich hörte ich Stimmen im Treppenhaus, die immer näher kamen. Leise fluchend wirbelte ich herum und stürzte zurück in die Wohnung, um mich dort zu verstecken. In den Schränken würden sie nach mir suchen, unter meinem Bett auch. Ich müsste irgendwie aus dem Fenster fliehen, aber wir wohnten im dritten Stock …
Plötzlich hörte ich ein lautes Krachen; jemand hatte die Tür eingetreten. Eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, rief meinen Namen und somit hatte ich die Wahl: Das Fenster oder die gruseligen Gestalten. Mit einem Ruck zog ich das Fenster auf und schwang mich hinaus, wobei meine Hände die Fensterbank umklammerten. Schmerzhaft schlug ich an der Außenseite des Hauses auf. Die Luft blieb mir weg. Keuchend rang ich nach Atem. Ich hörte Rufe und Türen, die gewaltsam geöffnet wurden. Die Stimmen kamen immer näher, wurden lauter und wütender, bis schließlich irgendetwas zertrümmert wurde.
Mein Puls raste, doch ich zwang mich ganz ruhig zu atmen und meine Möglichkeiten zu überdenken. Erstens konnte ich vielleicht springen, doch diese Option erschien mir angesichts der mindestens zehn Meter, die mich vom Boden trennten, unmöglich. Der zweite Ausweg war, mich zurück in die Wohnung zu hieven, aber dann dachte ich an die grauenhafte und definitiv nicht menschliche Stimme und erschauderte. Die dritte und bis jetzt beste Idee war es, zu warten, bis sie weg waren und zu ignorieren, dass meine Arme langsam taub wurden. Vielleicht hätte das sogar funktioniert – hätte nicht in genau diesem Augenblick der Minutenzeiger meiner Armbanduhr die 17 erreicht. Brennender Schmerz schoss durch meine rechte Hand und mir wurde schwarz vor Augen, während meine Finger vom Fenstersims glitten und ich in die endlose Dunkelheit stürzte.